Knifflig ist es manchmal, das leidliche Spiel mit den Schubladen. Everybody´s Gone to the Rapture würde ich sicher zu den „Walking Simulatoren“ zählen – wenn mich dieser latent negative Klang daran nicht stören würde. Dear Esther, ebenfalls von The Chinese Room entwickelt, ist eines der eindrucksvollsten interaktiven Erlebnisse der letzten Jahre und auch Everybody´s Gone the Rapture knüpft auf eine eigene Art und Weise an das damalige Meisterwerk an. War Dear Esther mehr visuelle Poesie als Spiel, ist Everybody´s Gone to the Rapture eher Mystery-Endzeit-Prosa mit ganz geringen Spielanteilen.
Diese Mixtur passt inhaltlich, aber auch vom Art Design her. Trotz kleinerer technischer Problemchen ist Everybody´s Gone to the Rapture ein außerordentlich schön anzuschauendes Spiel geworden, dem nur The Vanishing of Ethan Carter das Wasser reichen kann. Bemerkenswert ist der subtile Rote Faden, der das gesamte Werk durchzieht: Genauso unwirklich, wie die menschenleere Idylle der Westmidlands und des Dorfes selbst wirken, entwickelt sich die Geschichte von Everybody´s Gone to the Rapture. Kaum ein Dialog macht aus sich selbst heraus Sinn. Fragment für Fragment erspielt bzw. erwandert man sich das Spiel, die Umwelt und die Geschichte und das kann man schrecklich langweilig verurteilen oder als ganz großartig empfinden. Ich gehöre eher zum Lager der enthusiastischen Freunde solcher interaktiver Erfahrungen.
Die Story von Everybody´s Gone to the Rapture erfordert eine gewisse Aufmerksamkeit und Geduld vom Spieler, an die dieser sich schon durch die zeitweise recht langen Märsche von Haus zu Haus gewöhnt haben dürfte. Das extrem gedämpfte Tempo – auch im sogenannten „aufgeladenen Sprint“ mit gedrückter R2-Taste – tut dazu sein Übriges. Wir erfahren in homöopathischer Dosis durch die wiederherzustellenden Dialoge der Bewohner mehr über die rätselhaften Vorgänge im Dorf, bis wir uns ein annähernd komplettes Bild über die Katastrophe machen können, die sich wohl abspielte.
Der zwischenmenschliche Aspekt der Einwohner steht begrüßenswerter Weise ebenso wie die reine Geschichte im Vordergrund. Wir erfahren anhand von sechs Bürgern, die mittelbar und unmittelbar mit den Geschehnissen verknüpft sind, manchmal sogar mehr über ihren Umgang mit sich, Freunden und Partnern im Angesicht des Untergangs als darüber, wer was warum tat.
Dass diese ungewöhnliche Herangehensweise an ein Spiel funktioniert, liegt nicht zuletzt an den hervorragenden Dialogen und Sprechern. Und an der Dosis des erzählerischen Teils. Auf mich wirkt Everybody´s Gone to the Rapture nie geschwätzig. Ruhephase bestimmen größenteils das Spiel und wer es liebt, sich wunderschön gestaltete virtuelle Landschaften anzuschauen, hat eh genug „zu tun“. Untermalt wird die große Wanderung durch einen stimmigen Soundtrack, der wunderbar mit den Örtlichkeiten des Spiels harmoniert und sich von orchestral Klängen in Kirchennähe bis zu ganz leisen Melodien in Wiesenlandschaften perfekt in das Spielerlebnis einfügt.
Zum erwähnten Erlebnis zählt in Everybody´s Gone to the Rapture – und das im Gegensatz zu Dear Esther – ein gewisses Gameplay. Es ist nicht die Stärke des Spiels, das war es auch nicht bei The Vanishing of Ethan Carter und mag ein generelles (Design-)Problem bei Spielen dieser Art sein. Leider erklärt The Chinese Room darüber hinaus nur mangelhaft, wie der Spieler mit Everybody´s Gone to the Rapture interagieren soll. Neben dem Wandern, selbstverständlich. Herumschwirrende Lichtpunkte führen uns (mal eindeutiger, mal ganz schlecht) zu leuchtenden Hotspots, bei dem der Controller in einem gewissen Winkel gehalten werden muss, um dann den folgenden Dialog freizuschalten. Ginge es nach mir, hätte The Chinese Room auf diesen Firlefanz verzichten können – auch wenn er nicht wehtut und womöglich so etwas wie ein Kompromiss mit der Generation Konsole sein soll, die ja (angeblich) beschäftigt werden will. Was dagegen ein ernsthaftes Problem ist: Die ungewöhnlich schlecht verteilten Speicherstände. Ich dürfte nicht der Einzige sein, der über ein Spielstunde/Lebenszeit deswegen verschenkt haben dürfte.
Bei aller Schönheit kommt erfreulicher Weise die inhaltliche Qualität nicht zu kurz. Würde mich die Story nicht packen, wüsste ich auf Dauer nicht viel der menschenleeren Welt abgewinnen zu können. Eine schöne Verpackung entwickelt sich ohne Fleisch halt irgendwann zu einer seelenlosen Tech-Demo. Auch wenn in den Gesprächen das Wort „Grippe“ womöglich drei Mal zu oft fällt, mindestens, ist es doch ungemein spannend, der Wahrheit näher zu kommen. Es gibt in der Literatur, in Filmem und in Videospielen unzählige Gründe und Ursachen, warum sich die Menschheit auslöschte oder vernichtet wurde – aber hier gelingt es The Chinese Room doch tatsächlich, nicht nur einen individuellen Ansatz zu finden, sondern diesen noch völlig stimmig auf eine ganz eigene Art und Weise in Wort und Bild zu erzählen.
Vielleicht benötige ich keine allzu lange Pause, um zu Everybody´s Gone to the Rapture zurückzukehren. Bei Dear Esther und ebenso bei Journey und Brothers: A Tale of Two Sons taten einige Monate Abstinenz ganz gut. Hier juckt es mich auf ein schnelles Comeback, weil ich mir sicher bin, noch längst nicht alles gesehen und gehört zu haben, was es in Everybody´s Gone to the Rapture zu erfahren gibt. Trotz maximaler Geduld im Spiel. Ist doch schön, wenn es immer noch kribbelt.
1 Comment
Poly
Klingt ja so, als könnte man sogar einiges beim ersten Durchgang verpassen, was mich sehr freuen würde.