Unfälle, Querschnittslähmungen, Suizidgedanken, Tod, nagende Selbstzweifel und eine alles überstrahlende Melancholie gehören sicherlich nicht zu den Schwerpunkten in der Videospielkultur. Wahrscheinlich ist das gut so, denn wie wir wissen, ist ein ausgefeiltes Storytelling nicht unbedingt die ganz große Stärke in dieser Branche. Manchmal steht nur dieses vermaledeite Gameplay der Geschichte im Weg und oftmals fehlt es den Entwicklern einfach an erzählerischer Qualität. Dontnod´s Episodenformat Life is Strange ist dagegen sicherlich ein kluges und interessantes Experiment irgendwo zwischen Teeniedrama, Donnie Darko und düsterem Thriller, dass mich bislang ebenso faszinierte wie mir manchmal - besonders bei den Dialogen von Max und Chloe - die Fremdschamesröte ins Gesicht trieb. Nach dem mächtigen (AB HIER BEGINNT DIE SPOILER-ORGIE!) Cliffhanger der letzten Episode, bei der Max neue Zeitreisenkunst üble Konsequenzen hatte, war ich mehr als gespannt darauf zu erfahren, wie Dontnod es hinbekommen möchte, solch eine finstere Wendung adäquat in ein Entertainment-Produkt zu quetschen. Denn, natürlich, auch die vierte Episode namens Dark Room soll unterhalten, irgendwie.

Wobei „Unterhaltung“ nicht mit „oberflächlichem Scheiß“ gleichgestellt werden muss. Dark Room ist eine zweigeteilte Episode, bei der in der ersten Hälfte das tragische Leben und Ende der alternativen und ans Bett gefesselten Chloe erzählt wird. Das gelingt Dontnod sehr, sehr gut. Max und wir Spieler lernen die Grenzen der Zeitreise-Superkraft kennen und müssen feststellen, dass diese Gabe wenig von einer Wünsch-Dir-Was-Weltenlenkungs-Power hat. Entweder lebt Chloe als Halbwaise mit all den Konsequenzen oder ihr Vater lebt und Chloe bald nicht mehr. Das sind die beiden Alternativen und beide sind nicht erfreulich. Dark Room erzählt diesen Konflikt sehr feinfühlig, bleibt dabei aber konsequent schonungslos. Sowas muss gekonnt sein. Die zweite Hälfte fügt sich dagegen wieder inhaltlich geschmeidiger in die bisherige Serie ein und fordert den Spieler sogar mit einem Hauch von intelligenten Rätseln.

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Faszinierend ist die Mühe, die sich Dontnod mit den inneren Konflikten von Max machte. Obwohl sie weiß, dass sie wenig Verantwortung für die eigene Vergangenheit in einer alternativen Zeitlinie hat, schämt sie sich doch bis ins Mark gehend über ihre Ignoranz gegenüber der annähernd bewegungsuntüchtigen Chloe. Die Dialoge, Gedanken, Gesten und Blicke der beiden wurden in Dark Room mit aller Ruhe und fern von Pathos wunderbar geschrieben und inszeniert. Mir gingen Chloe´s letzte Stunden sehr zu Herzen und auch die Atmosphäre am Strand, bei ihrem letzten „Spaziergang“ in der Abendsonne mit Blick auf die verendeten Wale war sehr bewegend.

Nun, das gilt weniger für die Gespräche mit Chloe´s Eltern, deren frontale Freundlichkeit und Quasi-Stärke in Kombination mit den unterdurchschnittlichen Sprechern doch einiges an Authentizität wieder nahm. Aber, was soll´s, schwamm drüber. Als Chloe um Sterbehilfe bat und „meine“ Max zustimmte, hatte ich übrigens einen kleinen Kloß im Hals. Das passiert mir bei Videospielen extrem selten, eigentlich sind körperliche Reaktionen bei mir der Literatur und Filmen/Serien vorbehalten.

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Nicht zu übersehen ist natürlich die Tatsache, dass die Story mit dem Tod der alternativen Chloe in eine Sackgasse geraten ist. Auch in dieser Zeitlinie ist Rachel verschwunden, da gibt es durchaus eine interessante Konstante, aber die Suche nach ihr verliert an Dringlichkeit, auch weil die schwer kranke Chloe kein solch intensives Verhältnis zu ihr hatte. Wie Max in Dark Room diese Zeit verlässt, wurde mal wieder mit eindrucksvollen Bildern inszeniert und nicht nur aus dieser Passage hätte ich gerne mehr Screenshots in diesen Text und in die Galerie (siehe unten) gepackt, als ich es eh schon mache.

Der Wechsel in die gewohnte Zeitlinie schüttelte mich ein wenig durch und Dontnod tat gut daran, das Tempo zu erhöhen und neben dem Gameplay auch den bekannten Roten Storyfaden in den Vordergrund zu stellen. Zuvor, in der alternativen Zeiltinie, bestimmten Dialoge und moralische Entscheidungen das Spiel, nun sind es vor allem Taten. Wobei Max´ Superkraft seit einer gefühlten Ewigkeit mal wieder aktiv in das Gameplay integriert wurde.

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Dass Frank Bowers als Bösewicht vom Dienst die Bühne betritt, mag nicht verwundern. Dem hohen Niveau von Dark Room entsprechend, wird er in seinen Passagen weitaus differenzierter präsentiert als zuvor. Er mag immer noch ein Arschloch und ein Dealer sein, aber er ist doch ein Arschloch mit ein wenig Herz und Mitgefühl. Vor allem was Pompidou, seinen Hund, betrifft. Aber auch Rachel war nicht sein Opfer. Seinen weiteren Werdegang, oder wie immer man das beschreiben mag, können wir durch Max´ Künste zwar manipulieren, aber es ist schon zu erahnen, dass es immer kniffliger wird Chloe im Zaum zu halten.

Die weiteren Passagen in Dark Room grenzen an aktive Polizeiarbeit und wer ganz genau unten in den Entscheidungsscreenshots in der Galerie nachschaut, wird erkennen können, wo ich ein wenig gepfuscht habe. Es war halt irgendwann ein Code zuviel, den ich herausfinden musste…aber, trotzdem, die verschiedenen Hinweise zu einer konkreten Spur zu verdichten und die richtigen Schlüsse zu ziehen, waren rein spielerisch gesehen sogar Höhepunkte der Reihe - auch wenn die Sucherei mich später ein wenig nervte. Wie dem auch sei: Dass die Geschichte um Rachel nicht gut ausgeht, dürfte niemanden verwundern. Wie schmucklos und deprimierend so ein Ende sein kann, berührte mich dann trotzdem ordentlich.

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Die Spur zu Nathan wird nun konkreter und es scheint kein Zweifel daran zu bestehen, wer hier aus welchen niederen Beweggründen wen misshandelte und tötete. Nun, ein wenig anders kommt es dann doch, aber ich schätze, ich dürfte nicht der einzige Freund der Serie sein, der Mr. Jefferson nicht über den Weg traute, nicht wahr? Nach der spannenden Passage in der Scheune und dem Bunker geriet die Vortex Party für meinen Geschmack ein wenig zäh, aber das wurde mit dem Schockfinale wieder mehr als gut gemacht. Mal schauen, wie Max aus dieser Nummer wieder herauskommen wird und welche Rolle Chloe dabei vielleicht doch spielen kann.

Kurz noch zu den zwei Monden und dem Reh. Faszinierend, oder? Die verendeten Vögelchen und Wale gehören zu den Zeichen, die uns Dontnod sendet, eigentlich auch dazu. Interessant, dass gegen Ende, wenn sich alles zuspitzt und wir der sogenannten Wahrheit näher kommen, der eine Mond (bzw. der zweite) an Kraft verliert. Und auch die Silhouette des Rehs löst sich nach den tragischen Ereignissen an der Müllhalde auf. Und wen würde es wundern, wenn nun ebenfalls die Wale verschwinden? Es scheint, als würde wir uns in einer Realität dem einen Ende nähern.

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Es dürfte nicht schwer herauszulesen sein, dass Dark Room die aus meiner Sicht beste Episode von Life is Strange ist. Gerade verglichen mit der zweiten Folge dürfen wir einen wahren Qualitätssprung größten Ausmaßes bewundern. Der erste Abschnitt ist großes, gefühlvolles und niveauvolles Drama, wie ich es in einem Videospiel wohl noch nie erlebt habe. Anschließend geht es auf gewohnten Pfaden weiter, aber mit einer schönen Balance aus Gameplay und Story.

Und weil Dark Room so wunderbar gelungen ist, gibt es dieses Mal eine kleine Galerie.