Lesen Jugendliche heutzutage eigentlich noch Der Fänger im Roggen? Ich hoffe es. Wer das Meisterwerk von J.D. Salinger kennt, hat die erste kleine (arg mutige) Reminiszenz, die Life Is Strange wagt, schon entschlüsselt. Abgesehen davon, dass ein Spiel nicht ansatzweise einen Charakter so intensiv beleuchten kann wie es ein großer Schriftsteller in seinen Arbeiten vermag, sind gewisse Ähnlichkeiten von Max Caulfield mit dem literarischen Vorbild Holden Caulfield nicht von der Hand zu weisen. Hier hat sich der Entwickler Dontnod ein wenig am Anspruch verhoben, aber ansonsten sitzen die Anspielungen genauso gut wie Life Is Strange als Spiel selbst. In Chrysalis, der ersten von fünf Episoden, werden popkulturelle Erfolge wie Gone Home mit dem Spielprinzip der Telltale-Spiele und einer Hintergrundstory á la Twin Peaks und Donnie Darko vermischt. Das funktioniert tatsächlich. Nicht zuletzt, weil Dontnod ähnlich wie in Remember Me ein erstklassiges Händchen für wunderschöne Bilder und intensive Stimmungen hat.

Dramatisch, dramatisch. Max befindet sich in Life Is Strange zu Beginn einem stürmischen Raum-Zeit-Kontinuum.
Dramatisch, dramatisch. Max befindet sich in Life Is Strange zu Beginn in einem stürmischen Raum-Zeit-Kontinuum.

So ganz genau erfahren wir nicht, warum Max Caulfield plötzlich an der Uhr drehen kann, aber clever inszeniert ist dieses kleine Wunder durchaus. Es gibt den Bioshock Infinite-artigen Leuchtturm, der schon in der ersten Episode mehrmals auftaucht (siehe Screenshot unten…), den Donnie Darko-Himmel und das schreckhafte Erwachen in der Fotografie-Akademie. Dort kämpft Max innerlich mit all den bösen Mitschülern (besonders der lieben Victoria) und einem Mord, den wir tutorialartig durch ein „Zurückspulen“ der Zeit verhindern müssen. Mir gefiel dabei, neben der erwähnten Donnie Darko-Atmosphäre, vor allem die Ruhe, mit der uns Dontnod in Life Is Strange einführt.

Wie intensiv Life Is Strange gespielt wird, liegt vor allem am Spieler selbst. Wer will, kann sich ähnlich wie in Gone Home beinahe jeden Kleinkram, vom Buchcover bis zum Inhalt des Wäschekorbs, genau anschauen. Wer es nicht mag, lässt es halt bleiben. Besonders in der Interaktion mit den Freunden und Feinden auf dem Campus macht es sicherlich Sinn, sich Zeit zu lassen. Max Caulfield mit all ihren sozialen Ängsten wirkt authentischer, wenn ich ihre Gedanken zu den Mitschülern kenne, als wenn ich mit ihr durch Life Is Strange gehetzt wäre.

Die Ruhe vor dem Sturm.

Schon Remember Me war immer dann besonders eindrucksvoll, wenn das Spiel wirken konnte. Also wenn das Gameplay gar keine Rolle spielte. Das gilt mit kleinen Einschränkungen ebenso für Life is Strange, wobei die spielerischen Elemente, ähnlich wie in den Telltale Spielen, dieses Mal (cleverer Weise!) von vorneherein auf ein Minimum begrenzt wurden. Was in Remember Me die kurzen Erinnerungsmanipulationen waren, ist in Life Is Strange das Drehen an der Uhr. Das funktioniert, auch wenn es natürlich fraglich bleibt, warum Max nur dann mit der Zeit spielen kann, wenn die Entwickler es wollen und sie ansonsten nicht bzw. nur sehr eingeschränkt über diese Fähigkeit verfügt. Schwamm drüber.

Life Is Strange ist extrem dialoglastig und neigt in den Cut Scenes zu einer gewissen Geschwätzigkeit. Nicht alles davon muss unbedingt sein, aber wenn Entwickler ihren Protagonisten Charakter und Persönlichkeit verleihen, dann geht es kaum anders, als sie zu Wort kommen zu lassen. Stimmen dann noch Körperhaltung und Mimik mit dem gesprochenen Wort überein, erklimmt sogar ein Spiel mit vergleichsweise geringem Budget eine Qualitätsstufe, die ich sonst nur aus Filmen und Serien kenne. Es ist verblüffend, dass mir bei einer Spielzeit unter zwei Stunden derart viele Personen so schnell so gut bekannt vorkommen.

Einer der wenigen Hinweise auf die Vermisste.
Einer der wenigen Hinweise auf die Vermisste.

Der Verschwinden einer jungen Frau, um das es in Life is Strange auf der Meta-Ebene geht, wird nur kurz in einem Dialog erwähnt und uns ansonsten nur via Vermisstenplakate näher gebracht. Das reicht völlig aus und es ist schön, dass ein Entwickler heutzutage noch den Mut hat, der werten Kundschaft ein Mindestmaß an Grips zuzutrauen. In anderen Spielen wäre das Verschwinden von Rachel in x-Dialogen ganz breit getreten worden. Vor dem Hintergrund eines mysteriösen Vorfalls und der plötzlich erlangten Fähigkeit die Zeit zu manipulieren, navigieren wir Max dann sogar noch durch kleine soziale Fragestellungen, um es mal so zu nennen. Das Biest der Akademie wird einen Kopf kürzer gemacht, die beiden Bösewichter kriegen ebenso ihr Fett ab und zusätzlich wird noch an einer zarten Bande geschmiedet. Das ist allerhand. Wie gesagt, das alles passt in knapp zwei Stunden Spielzeit bei gebremstem Tempo.

Nachtigall, ick hör dir trapsen.

Und wo bleibt nun das Gameplay? So ein wenig dürfen wir bei Zeitmanipulationen an der Tastatur herumkloppen, das unterscheidet Life Is Strange ganz sicher von den Telltale-Spielen. Ansonsten bewegt es sich sehr nah am Vorbild und man darf gespannt sein, wie dreist letztlich das abgekupferte Entscheidungssystem wirklich ein solches oder nur Fake ist. Da tippe ich ganz stark auf telltaleskes Letzteres.

Wobei wir einige Antworten und gewisse weitreichendere Handlungen rückgängig machen können. Das nimmt Life Is Strange zugegebener Maßen ein wenig an Reiz, denn das Spiel versucht uns ziemlich unsubtil in bestimmte Richtungen zu drängen. So wie Max Caulfield gestrickt ist, passt es einfach nicht, dass sie dem Direktor der Akademie völlig ohne Not erzählt, dass sie die Zeit zurückspulen kann. „Meine“ Max hat es deswegen nicht getan, obwohl mich das Spiel mit einem mir nicht als authentisch wirkenden Max-Gedanken genau das nahelegte. Und später erwies sich das als eine gute Entscheidung.

Max & Chloe.
Max & Chloe.

Die Geschehnisse aus dem Quasi-Tutorial erhalten nämlich eine kleine, elegante Wendung, weil eine der Protagonisten Max´ frühere beste Freundin Chloe ist, die ihrerseits wiederum sehr gut mit der verschwundenen Rachel befreundet war. Schwupps, das sind die Fäden gezogen, da ist der Fortgang der Story wieder erahnbar, ohne dass uns Dontnod seine Twists ins Gesicht reibt. Und die Petzerei beim Direktor hätte wohl dazu geführt, dass eine gute alte Freundin plötzlich am Pranger steht. Also, alles richtig gemacht, glaube ich zumindest. Was heißt: Man darf und soll bei Life Is Strange selbst denken und nicht das Gehirm schon beim Ladebildschirm auf Standby schalten.

Im März geht es weiter mit Life Is Strange. Mit Blick auf die weiteren aktuell laufenden Formate würde ich es ganz oben mit Telltale´s Game of Thrones und noch vor Borderlands und The Detail einordnen. Life Is Strange hat seinen Platz also schon mit der ersten Episode gefunden und braucht die erwähnte gute Gesellschaft weiß Gott nicht zu fürchten.